Kann und muss ich nach traumatischen Gewalterfahrungen Vergeben und Verzeihen?

In vielen Online-Kursen und auch in der ein oder anderen Psychotherapie wurde mir, aber auch meinen Klient:innen immer wieder gesagt: im Vergeben liegt die Kraft und Energie für eine glückliche Zukunft. Viel zu lange habe ich mich mit der Frage beschäftigt: Kann und muss ich nach traumatischen Gewalterfahrungen Vergeben und Verzeihen? Was der Unterschied zwischen Vergeben und Verzeihen ist und warum mich diese Aussagen unter Druck gesetzt haben, sodass ich gegen das Konzept Vergeben und Verzeihen lange im Widerstand war (was ich im Übrigen auch bei meinen Klient:innen immer wieder erlebe), wie ich heute damit umgehe und was ich Dir unbedingt empfehle, das erfährst Du in diesem Blogbeitrag.

Astrid Lindgren

Astrid Lindgren. Mein liebstes Lebensmotto, neben: Es gibt kein Verbot für alte Weiber, auf Bäume zu klettern.

Was ich viele Jahre unter Vergeben und Verzeihen verstanden habe

Verzeihen – ein Missverständnis, auf Erfahrung beruhend

Lange Zeit habe ich beide Worte für Synonyme füreinander gehalten, also ich habe keinen Unterschied zwischen vergeben und verzeihen gemacht. Das lag sicher auch an Kindheitserfahrungen. Im Streit mit anderen Kindern – aus meiner Sicht hatten diese mit dem Streit angefangen – kam es häufiger zu Situationen, in denen sich Erwachsene in den Streit einschalteten und ihn damit auflösten, dass wir uns beieinander entschuldigen und uns verzeihen sollten. Um Ruhe vor den Erwachsenen zu haben, machten wir das, aber es war nicht mehr als ein Lippenbekenntnis.

Ein anderer Aspekt, ebenfalls eine Erfahrung aus der Kindheit: Egal, was Erwachsene falsch gemacht haben, nicht einer hat sich bei mir entschuldigt, im Gegenzug wurde aber bei Fehlverhalten meinerseits, immer wieder Respekt gegenüber dem/der Erwachsenen in Form von Entschuldigung eingefordert. In mir wuchs so das Verständnis, dass sich immer nur die Versager entschuldigen und verzeihen müssen – im Beisein von Erwachsenen waren wir Kinder alle Verlierer, die nichts zu melden hatten.

Widerstand und Rebellion

Da ich mich während meiner Kindheit/Jugend immer wie eine Verliererin fühlte, unwichtig, auf deren Bedürfnisse Null Rücksicht genommen wurde (außer an meinem Geburtstag, da durfte ich mir immer mein Lieblingsessen wünschen, aber nur alle zwei Jahre, weil mein großer Bruder am selben Tag Geburtstag hat), beschloss ich als junge Erwachsene ein rebellisches Leben zu führen. Ich fühlte mich weder normal noch dazugehörig und das lebte ich auch im Außen. Mein Habitus war ein Mix aus Punk, Grufti und Künstlerin. Verzeihen gehörte für mich zu den unehrlichen Spielen der Erwachsenen. Ich misstraute allen, die mir damit kamen. Meiner Erfahrung nach war es ohnehin nie ehrlich gemeint.

Intelligent und traurig – das war viele Jahrzehnte meine Selbstbeschreibung.

Später kam hinzu, dass ich nicht verzeihen wollte. Ich fühlte mich schlecht aufgrund der Erfahrungen, die ich im Elternhaus (tyrannischer und zu Gewalt neigender Vater, depressive Mutter) und mit Gleichaltrigen (Mobbing) gemacht hatte. Und dann erzählten mir Therapeut:innen, ich solle verzeihen und vergeben? Den Menschen, die mich so tief verletzt hatten? Für mich war lange Zeit klar: „no way“.

Mit zunehmendem Alter kommt die Weisheit?

Mit den Jahren beruhigte ich mich. Mein aktuell stattfindendes Leben wurde zunehmend präsenter und wichtiger. Mein Fokus wandte sich, von dem, was war, zu dem, was sein sollte, was ich im Moment wollte. Die Symptome schwächten sich ab, die Trigger wurden weniger. Damit dies gelingen konnte, sagte ich mich von meiner Herkunftsfamilie los. Anfangs, weil ich wusste, dass unser Verhältnis für mich nicht gut ist, heute sagt man toxisch dazu. Später beließ ich es dabei. Ich hatte keine Worte für diese Familie und wenn ich doch einmal an sie dachte, passierte es, dass ich sofort vollkommen emotionslos wurde. Allein beim Gedanken an sie dissoziierte ich. Also verdrängte ich die Gedanken an sie und ja, manchmal war ich traurig darüber, keine Eltern zu haben. Insgeheim wünschte ich mir sogar bis weit in meine 30er-Jahre, es mögen sich doch liebevolle Menschen finden, die mich adoptieren.

nach traumatischen Gewalterfahrungen vergeben und verzeihen?

Viele Jahre meines Lebens waren geprägt von Trauer, Verunsicherung und nicht ankommen können. Wie sollte ich auch irgendwo dazugehören, wenn ich mich nicht als Weggefährtin ansehen konnte?

Vergebung – ein starkes Konzept der psychospirituellen Coaching-Szene

Vor ca. 8-10 Jahren kam ich dann mit der psychospirituellen Szene in Kontakt. Besuchte Online-Seminare, hörte Podcasts und da begegnete er mir wieder, dieser Satz mit der Vergebung. Und manchmal gingen die Kursleiter:innen sogar so weit, dass sie mir erzählten, nur wenn ich wahrhaft vergebe, kann ich ein glückliches und gesundes Leben führen. Sofort war mein Widerstand wieder da. Diesmal aber aus anderen Gründen. Für mich selbst habe ich das Thema geklärt, aber für viele meiner traumatisierten Klient:innen, die ebenfalls mit diesen Aussagen konfrontiert sind, bedeutet es Druck und nicht selten Absturz. Weil sie es nicht schaffen, zu vergeben und zu verzeihen. Weil sie denken, sie müssten es schaffen und sind selbst schuld daran, wenn es ihnen nicht gelingt. Was impliziert: Sie sind selbst schuld daran, wenn es ihnen nicht gut geht. Ein fataler Irrtum.
Umso mehr freut es mich, wenn Größen wie Veit Lindau oder die Greator Coaches Christina und Walter Hommelsheim, inzwischen dazu übergehen, zumindest zu erwähnen, dass dies für Menschen, die Traumata erlebt haben, mit Vorsicht zu betrachten ist. 

Die eigentliche Bedeutung von Vergeben und Verzeihen

Verzeihen und vergeben hieß für mich früher: egal, was zwischen uns passiert ist, jetzt ist alles wieder gut. Auch wenn ich noch unter dem leide, was du mir angetan hast, es spielt zwischen uns keine Rolle mehr. Ziemlich schräg finde ich das Heute. Besser gefällt mir die Definition der Philosophin Svenja Flasspöhler: „Verzeihen meint den Verzicht auf Vergeltung. Vergeben kommt vom Begriff Gabe und betont einen anderen Aspekt: Man macht jemandem ein Geschenk. In der Regel vergibt Gott, und wir Menschen verzeihen.“ Nun, die Sache mit Gott, ist etwas für religiöse Menschen, zu denen zähle ich mich nicht.
Ich habe keine Ahnung, ob es einen Gott gibt, der verzeiht, für mich ist wichtiger, wie wir hier auf der Erde mit diesen Themen umgehen. Aber in mir grummelt etwas, wenn ich darüber nachdenke, dass ein Gott jemandem etwas vergibt, was derjenige mir angetan hat. Da werde ich ja schon wieder „entmachtet“, weil es sich meiner Entscheidung entzieht.

Häufig sind Täter:innen sexueller Gewalt uneinsichtig, was bedeutet, wenn ich vergebe, bleibe ich, was ich bin: alleingelassen mit einem großen Thema. Und weil ich ja vergeben habe, darf ich weiterhin nicht mehr darüber reden. Ich meine nicht das „anklagende“ Reden (wobei auch das in Phasen der persönlichen Aufarbeitung seine Berechtigung hat). Ich meine das Reden zum Beispiel über Langzeitwirkungen, was es mit Körper und Psyche macht, ganz sachlich. Das nennt sich therapeutische Aufklärungsarbeit und dient Betroffenen dazu, sich selbst besser zu verstehen.

Mein Umgang mit Vergeben und Verzeihen

Wenn ich mir die Definition von S. Flasspöhler anschaue, dann kann ich sagen, verziehen habe ich schon lange. Im Sinne von Verzicht auf Rache und Vergeltung. Habe ich das für die Täter getan? Keineswegs. Ich habe es für meinen Seelenfrieden getan. Wut, Angst und ja, auch Rachegefühle haben mich in der Ohnmacht festgehalten. Das wollte ich beenden, weil ich meinen Mitmenschen und mir ein gutes Leben schuldig bin. Weil ich nicht lebenslänglich, dem was war, verhaftet sein wollte.

Ich heirate mich selbst - dazu gehört auch, mir selbst zu vergeben

Auf einem Felsen in Anaxos auf Lesvos gab ich mir am 08.05.2014 das Ja-Wort. Auf dem Foto lese ich mir mein Ehegelübde vor. „Ich heiße alles willkommen, was in mir steckt. Trauer und Schmerz, Freude und überbordende Liebe, Zartheit und Kreativität, Plumpheit und Besserwisserei, Lautes und Leises, alles das und noch so viel mehr gehört zu mir. Ich bin bereit, in mir zu Hause zu sein. Darum sage ich heute JA!“ (Auszug)

Vergeben im Sinne von Geschenk, so großzügig bin ich dann doch nicht. Wobei es wenig mit meiner Großzügigkeit zu tun hat. Ich kann es einfach nicht. Diese Menschen hatten fast 30 Jahre Zeit, auf mich zuzugehen, zu signalisieren, dass sie bereit sind, sich mit mir auseinanderzusetzen. Nicht im Sinne von sie müssen sich klein machen, das will ich nicht, es geht mir nicht um eine Machtumkehr. Wenn, dann geht es mir um Augenhöhe und darum, dass meine Wahrheit als solche akzeptiert wird.

Es geht um Verantwortungsübernahme im Sinne von: ja, da haben wir versagt. Ich will keine Schuldgefühle, ich brauche nicht einmal eine Entschuldigung. Auch sie waren geprägt von Eltern, die in der Nazizeit Kinder bekamen. Sie waren geprägt von den Ängsten und Nöten der Nachkriegszeit und den fragwürdigen Erziehungsmethoden der Generation ihrer Eltern und Großeltern. Das kann ich anerkennen, dafür kann ich Verständnis aufbringen. 

Aber offen gesagt, ich lebe jetzt seit so vielen Jahren ohne das relativ gut, die Entfremdung zwischen uns ist so groß, ich wüsste gar nicht, wo wir anfangen sollten, in Kontakt zu gehen.

Meine Werte, meine Ehegelübde

Ich sage JA zu einer heilsamen, liebevollen und lebendigen Beziehung mit mir. Das sind die Werte, die ich seit meiner Hochzeit mit mir anstrebe und lebe.

Ich habe meinen Frieden gemacht, in mir und das ist das, was am Ende wirklich zählt. Ich bin dankbar dafür, dass ich am Leben bin und ich glaube, dass sie für andere Menschen gute Freunde sind, vielleicht sogar gute Großeltern. Das weiß ich nicht und im Grunde ist es mir egal, weil es in meinem Leben keine Rolle spielt. Trotz allem gönne ich Ihnen von Herzen, ein gutes Leben zu führen, auch wenn mein Leben mit ihnen nicht gut war. Es ist vorbei und das ist gut so.
Mitunter werde ich darauf angesprochen, ob ich vergeben kann, vergeben habe. Ich antworte dann: „Ich könnte vergeben, aber ich will nicht. Ich will nicht die Richterin über ein anderes Leben sein. Sie müssen sich selbst vergeben, das ist für sie wichtiger, als wenn ich vergebe. Wenn, dann bin ich Richterin für mein Leben, meine Handlungen. Damit habe ich genug zu tun.“

Ich bin die Geliebte des Lebens

Fazit nach 8 Jahren Ehe mit mir selbst.

Meine Empfehlung für Dich

Egal, was Außenstehende Dir einreden, auch ich, letztendlich ist all das DEINE Entscheidung.
Doch bevor Du darüber nachdenkst, anderen zu verzeihen, zu vergeben, vergib Dir, verzeih Dir. Nimm all die Wut, die Angst, den Ärger, die Ohnmacht, die Du vielleicht noch in Dir trägst, weil Du Dich nicht gewehrt hast, weil Du die Spiele der Erwachsenen vielleicht sogar mitgespielt hast, vergib Dir, denn Dich trifft keine Schuld an der Gewalt. Alles, was Du in dieser Situation getan oder unterlassen hast, hast Du getan, hat das Leben in Dir getan, um zu überleben.

Wenn Du sagst, ich muss mir nichts verzeihen! Großartig, denn so ist es im Grunde ja auch. Du hast nichts Falsches getan. Du kannst weder etwas für Dein Geschlecht noch dafür, dass Du auf der Welt bist. Aber Du entscheidest HEUTE, wie Du in dieser Welt bist, wer Du bist und sein willst. Mit wem Du Dich umgibst. Deshalb, bevor Du über die anderen nachdenkst, denke an Dich. Stell Deinen Selbstwert, Deine Selbstliebe auf gesunde Lebensfüße, stell Deine Würde, die Dir damals genommen wurde, wieder her. Schließ Frieden mit Dir! Sag ja, zu Deinem Leben. Dann ergibt sich alles andere von selbst. Anschließend wirst Du wissen, was Du tun und womit Du Dich beschäftigen willst. 

Verzeihen und Vergeben

Wichtiger, als anderen zu vergeben und zu verzeihen, ist es, mit mir selbst Frieden zu schließen. Die Beziehung zu mir, wird am Ende die längste Beziehung meines Lebens sein, also bin ich doch geradezu verpflichtet, diese wachstumsfördernd und liebevoll zu gestalten.

Fazit

Prinzipiell halte auch ich Vergeben und Verzeihen inzwischen für ein wichtiges Konzept, gesellschaftlich betrachtet. Ohne dies, wäre es nicht möglich, als ehemals verfeindete Gesellschaften miteinander in Frieden zu leben, wie wir das in der EU tun.
Allerdings ist es aus meiner Sicht und Erfahrung im Privatleben

  • a) nicht immer möglich,
  • b) nicht immer nötig,
  • c) sehr wohl möglich, OHNE dies ein gutes und gesundes Leben zu führen 
  • d) IMMER eine sehr persönliche Entscheidung, bei der NIEMAND das Recht hat Einfluss zu nehmen, oder die Entscheidung zu bewerten.

Zum Weiterlesen hier noch ein Link zu einem Artikel zum Thema von Dami Charf.

Falls Du Dir auf Deinem Weg Unterstützung wünschst, ich bin gern für Dich da. Vereinbare ein kostenfreies Erstgespräch und wir schauen, ob wir zueinanderpassen und miteinander ein Stück des Weges gehen wollen.

Vielen Dank fürs Lesen.

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Hallo, ich bin Sylvia

systemische Therapeutin, Trauma-Coach und Bloggerin. Seit über 20 Jahren arbeite ich mit Paaren, Familien und Einzelpersonen daran, negative Kindheitsprägungen und frühe Traumata zu lösen und ein Leben voller Selbstvertrauen, inneren Frieden und emotionaler Stabilität zu führen.
Für ein erfülltes Leben in Verbundenheit.

Quietschfidel Wolken schaufeln
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